Die Geschichte hinter dem Song: Billie Holiday »Strange Fruit« | marx21 (2024)

Vor 80 Jahren, im Frühjahr 1939, veröffentlichte die Jazz-Sängerin Billy Holiday den Song »Strange Fruit«. Wir erzählen die Geschichte hinter dem ersten politischen Popsong der Welt. Von Yaak Pabst

Im Frühjahr 1939 verändern zwölf Verse die Welt. In dem New Yorker Club »Café Society« singt die schwarze Jazz-Sängerin Billie Holiday ein Lied, in dem zum ersten Mal offen die Unterdrückung der Schwarzen in den USA angeprangert wird. Die Anwesenden sind begeistert, ahnen aber nicht, dass sie gerade die erste Hymne der Bürgerrechtsbewegung hören.

Die USA unter den »Jim-Crow-Gesetze«

Für Schwarze sind die USA zu dieser Zeit ein erniedrigender und gefährlicher Ort. Es herrschen die »Jim-Crow-Gesetze«: Rassentrennung, weiße Terrorherrschaft, Apartheid.

Die schwarze Bevölkerung wird brutal unterdrückt

Die Menschen sind zwar keine Sklaven mehr, aber Gefangene in einer von Weißen dominierten Welt. Weiße gehen auf weiße Schulen, Schwarze auf schwarze. Die öffentlichen Toiletten sind genauso nach Hautfarbe getrennt wie Restaurants, Wartezimmer oder Busse und Bahnen. Die besten Plätze bleiben für Schwarze versperrt. Auch das Wahlrecht wird ihnen verweigert. Sie sind Menschen zweiter Klasse.

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Getrennter Warteplatz für Schwarze an einer Bushaltestelle in Durham, North Carolina, Mai 1940. Foto: Jack Delano / als gemeinfrei gekennzeichnet / wikimedia

Lynchmorde

Die Spitze der Unterdrückung stellt die physische Gewalt dar – die Lynchmorde. Zwischen 1882 und 1968 wurden in den USA 4743 Fälle aktenkundig – die meisten davon in den Südstaaten. Vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen. Das Lynchen war ein öffentliches Spektakel: Ein begeistertes Publikum schaute der Folter in karnevalistischer Atmosphäre zu oder hetzte mit. Eine Umfrage aus dem Jahr 1939 ergab, dass in den Südstaaten sechs von zehn Weißen das Lynchen befürworteten. Für manche weiße Südstaatler waren Knochensplitter der Opfer, Kleiderfetzen oder ein verkohltes Stück Strick begehrte Souvenirs. Fotos von den Morden wurden vervielfältigt und zum Verkauf angeboten.

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Postkarte der »Lynchmorde von Duluth«: Nachdem mehreren schwarzen Zirkusarbeitern vorgeworfen worden war, ein weißes Mädchen vergewaltigt und getötet zu haben, wurden drei von ihnen im Juni 1920 in Duluth, Minnesota, von einem aufgebrachten Mob gelyncht. Später stellten sich die Vorwürfe als unwahr heraus. Foto: Wikimedia

Adam Meerpol und das Gedicht »Strange Fruit«

Als der jüdische Lehrer Adam Meerpol ein solches Foto in die Hände bekommt, ist er schockiert. Meerpol lebt in der New Yorker Bronx, ist aktiver Gewerkschafter, Mitglied der Kommunistischen Partei und leidenschaftlicher Dichter und Musiker. Das Foto verfolgt ihn tagelang, raubt ihm den Schlaf. Daraufhin schreibt er sich die Wut von der Seele: Der Song »Strange Fruit« ist geboren – ein Aufschrei gegen den Hass, die Entwürdigung und die rassistische Gewalt.

Die Reime ergreifen, bestechen, erschüttern

Die im Lied angesprochene »Strange Fruit« (seltsame Frucht) ist die Leiche eines gelynchten Schwarzen, irgendwo im Süden der USA, mit einem Strick an einem Baum aufgehängt. Meerpol legt in den wenigen Versen die Barbarei des Rassismus offen. Die Reime ergreifen, bestechen und erschüttern, weil es dem Dichter gelingt, den gewaltsamen Horror des Lynches der idylischen Landschaft des Südens gegenüberzustellen. Ein Bild, das beklemmt aber gleichzeitig Widerspruch hervorruft.

Southern trees bear a strange fruit, / Blood on the leaves and blood at the root, / Black body swinging in the Southern breeze, / Strange fruit hanging from the poplar trees

(Die Bäume im Süden tragen seltsame Früchte, / Blut auf den Blättern und Blut an der Wurzel, / Schwarze Körper schaukeln im südlichen Wind, / Seltsame Früchte hängen von den Pappeln)

Pastoral scene of the gallant south, / The bulging eyes and the twisted mouth, / Scent of magnolia sweet and fresh, / Then the sudden smell of burning flesh

(Ländliche Idylle im galanten Süden, / Hervorquellende Augen und verzerrter Mund, / Süßer frischer Magnolienduft, / Dann der plötzliche Geruch von verbranntem Fleisch)

Here is a fruit for the crows to pluck, / For the rain to gather, for the wind to suck, / For the sun to rot, for the tree to drop, / Here is a strange and bitter crop

(Hier ist eine seltsame Frucht, an der die Krähen picken, / An der sich der Regen sammelt, die vom Wind geschüttelt wird, / Die in der Sonne verrottet, bis sie vom Baum fällt, / Eine seltsame und bittere Ernte)

Das Lied wird regelmäßig in Kreisen der amerikanischen Linken in und um New York gespielt: Von Freunden Meerpols bei Gewerkschaftsversammlungen oder von einem Quartett von schwarzen Sängern, die das Lied auf antifaschistischen Benefizveranstaltungen für die Kämpfer der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg spielen.

Billie Holiday singt »Strange Fruit«

Im Frühjahr 1939 bittet Meerpol Billie Holiday, den Song in ihr Programm aufzunehmen. Doch sie zögert. Zu dieser Zeit ist die Sängerin 24 Jahre alt und bereits eine Berühmtheit in der Welt des Jazz. Weil sie schwarz ist, befürchten ihre Freunde, das Lied könne ihrer Karriere schaden.

Nach einigen Proben ist Holiday jedoch nicht mehr davon abzubringen. Sie macht aus dem Song einen unverwechselbaren, eindringlichen, wütenden Vortrag. Meerpols Verse interpretiert sie in einer unglaublichen Vielfalt. Ihr Gesang ist weich und kräftig zugleich. Die ersten Zeilen beginnt sie mit tiefer und kratziger Stimme, um dann sanft, leicht fast lautlos und einfühlsam fortzufahren. Doch plötzlich ändert sie die Richtung. Hart und wütend, dunkel, angewidert und voller Verachtung betont sie den letzten Buchstaben im Wort. Sie macht gezielt Pausen, lässt Stille den Raum füllen, um dann umso intensiver die nächste Zeile zu beginnen: Bedrückt, von einem tiefgreifenden Schmerz erfasst, zwingt sie das Publikum, dem Lied seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

Billie Holidays Darbietung löst heftige Reaktionen aus

Billie Holiday polarisiert

Ihre Darbietung löst heftige Reaktionen aus. In ihrer Autobiografie schreibt sie: »Dieses Lied schaffte es, die Leute, die in Ordnung sind, von den Kretins und Idioten zu trennen.« Die einen kommen täglich zu ihren Auftritten, nur um diesen Song zu hören. Die anderen, einschließlich des FBI, versuchen sie mit allen Mitteln zum Verstummen zu bringen. Vergeblich: »Strange Fruit« avanciert zum Höhepunkt von Holidays Auftritten. Die Künstlerin setzt das Lied gezielt an das Ende ihrer Show. Sämtliche Lichter werden ausgeschaltet, nur ein Spotlight ist auf die Sängerin gerichtet. Ein leidenschaftliches, beeindruckendes und anrührendes Schlussstück, nach dem es keinen weiteren Song mehr geben kann.

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Billie Holiday mit Band im Club Bali in Washington, D.C. im September 1948. Foto: William Gottlieb / Ralph F. Seghers / Ken Seghers / wikimedia

Holiday erinnert sich später: »Ich beendete das Set mit Strange Fruit und ging dann sofort zum Waschraum, so wie ich es immer mache, weil mich das Singen so mitnimmt, dass mir richtig schlecht davon wird. Es nimmt mir einfach meine ganze Kraft. Nun kam also diese Frau in die Damentoilette im Downtown Club und fand mich völlig fertig vom vielen Heulen. Ich hatte die Bühne im Laufschritt verlassen, mir war heiß und kalt zugleich. Sie sah mich an und die Tränen stiegen ihr in die Augen: ›Mein Gott‹ sagte sie, ›ich habe noch nie in meinen Leben etwas so wunderbares gehört. Dort draußen kann man immer noch eine Nadel fallen hören.‹«

Billie Holiday schaffft die erste Protesthymne der 1940er Jahre

Der Song erschüttert nicht nur zahllose Amerikanerinnen und Amerikaner, sondern Menschen auf der ganzen Welt. Als die Platte erscheint, schicken Aktive der Bürgerrechtsbewegung sie an alle Mitglieder des US-Senats, um gegen die Lynchmorde zu protestieren. Das Lied landet binnen weniger Wochen auf Platz 16 der Charts – es ist die Protesthymne der 1940er Jahre.

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Billie Holiday während eines Auftritts in einem New Yorker Jazzclub im Februar 1947. Foto: William P. Gottlieb / als gemeinfrei gekennzeichnet / wikimedia

Der Song ist Holidays Beitrag zum Kampf gegen den Rassismus, ein ganz persönlicher. Ihr Vater starb 1937, weil sich alle Krankenhäuser der Gegend weigerten, einen Afroamerikaner zu behandeln. Sie schreibt: »Es macht mich immer noch traurig, wenn ich es singe. Es erinnert mich daran, wie mein Vater gestorben war. Aber ich musste es immer wieder singen, nicht nur, weil die Leute es sich wünschten, sondern auch, weil zwanzig Jahre, nachdem mein Vater nun tot ist, diese Dinge, die ihn umgebracht haben, immer noch im Süden passieren.«

Kampf für gleiche Rechte

Das Lied setzte fort, was Aktivistinnen und Aktivisten Anfang der 1930er Jahre auf der Straße begonnen hatten: Den Kampf für gleiche Rechte für alle Menschen – egal welcher Hautfarbe. Aber vor Meerpol und Holiday hatte kein Künstler gewagt, dieses Thema so direkt anzusprechen. Mit »Strange Fruit« schrieb Billie Holiday Geschichte, weil sie einen der ersten politischen Popsongs so interpretierte, dass Millionen Menschen davon berührt sind – bis heute.

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Schlagwörter: Bürgerrechtsbewegung, Geschichte, Kultur, Musik

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FAQs

What is the meaning of the song Strange Fruit by Billie Holiday? ›

The lyrics were drawn from a poem by Meeropol published in 1937. The song protests the lynching of Black Americans with lyrics that compare the victims to the fruit of trees. Such lynchings had reached a peak in the Southern United States at the turn of the 20th century and the great majority of victims were black.

What happened to Holiday because of the song Strange Fruit? ›

After Holiday refused to stop performing the song at Anslinger's request, he had agents from his department sell her heroin to frame her. She was sent to prison for more than a year, and was stripped of her cabaret performer's license by authorities upon her release in 1948, essentially ending her nightclub career.

Why did Nina Simone cover Strange Fruits? ›

Nina Simone and Strange Fruit

With this in mind, “Strange Fruit” was a perfect song for Nina Simone to cover. She often brought attention to deeper social issues through her recordings and performances. “['Strange Fruit'] is about the ugliest song I have ever heard,” Simone once said.

Was Billie Holiday on methadone? ›

Anslinger continued to pursue Holiday in the hospital

“So she's very ill, and she goes into heroin withdrawal because she's not given any in the hospital,” Hari said. “And Maely Dufty, her friend, managed to insist that she was given methadone, and she began to recover.

What is the deep meaning of Strange Fruit? ›

Answer. Between 1882 and 1964 at least 3,400 Blacks were lynched in the United States. "Strange fruit" is a euphemism for the lynched bodies of African Americans hanging and swaying from trees.

Did Billie Holiday have children? ›

Holiday was childless, but she had two godchildren: singer Billie Lorraine Feather (the daughter of Leonard Feather) and Bevan Dufty (the son of William Dufty).

Is Billie Holiday still living? ›

Who really wrote Strange Fruit? ›

Considering the vivid images and sustained metaphor of the song “Strange Fruit,” it shouldn't be surprising that it began as a poem. It was written by Abel Meeropol (1903-1986), a teacher, poet and songwriter, who published under the name Lewis Allan.

Why was Strange Fruit taken off the radio? ›

"For mainstream institutions – record labels, radio stations – the song was too hot to touch," says David Margolick, author of "Strange Fruit: Billie Holiday and the Biography of a Song." "Beyond a group of left-wing progressives, largely white, most people wouldn't have known the song.

Did Nina Simone know Billie Holiday? ›

"I only met Billie Holiday once in my life. I think they associate me with her because my first hit was approved by her, which was 'I Loves You Porgy'. The inspiration was taken from her and I asked for her approval to sing it.

What happened to Billie Holiday's parents? ›

Billie Holiday was born Eleanora fa*gan on April 7, 1915, in Philadelphia, Pennsylvania, to teenaged unmarried parents, Sarah Julia “Sadie” fa*gan and Clarence Holiday. Not long after Eleanora's birth, Clarence Holiday abandoned his family to pursue a career as a jazz banjo and guitar player.

What was Billie Holiday famous for? ›

Why was Billie Holiday significant? Billie Holiday was one of the greatest jazz singers from the 1930s to the '50s. She had no formal musical training, but, with an instinctive sense of musical structure and a deep knowledge of jazz and blues, she developed a singing style that was deeply moving and individual.

Where is Billie Holiday's grave? ›

Detailed map of New Saint Raymond's Cemetery in Bronx NY. Holiday's burial site is in the St. Paul section, Row 56, Grave #29. Grave marker of Billie Holiday.

Why is Billie's Holiday called Lady Day? ›

Billie insisted their relationship was strictly platonic. She gave Lester the nickname "Prez" after President Franklin Roosevelt, the "greatest man around" in Billie's mind. Lester in turn gave Billie her famous nickname, "Lady Day."

What was Billie Holiday's quote? ›

No two people on earth are alike, and it's got to be that way in music or it isn't music. If I'm going to sing like someone else, then I don't need to sing at all.

What is the main idea of the poem Strange Fruit? ›

"Strange Fruit" is a poem about racism and hatred. Specifically, it is about the treatment of black people by white people during a period of time roughly running from the end of the American Civil War up to the time of the poem's composition in the 1930s.

What is the dance Strange Fruit about? ›

The dance performance of “Strange Fruit” portrays the emotional journey of a white woman as she reacts in horror to the sight of lynching she witnessed and participated in.

What emotions does Strange Fruit evoke as intended by its powerful lyrics? ›

The song's lyrics, which describe the brutal and inhumane practice of lynching African Americans, can evoke feelings of anger, sadness, and frustration. Many people who listen to the song feel a deep sense of sorrow and empathy for the victims of racial violence and the injustices they faced.

What is the tone of the poem "Strange Fruit"? ›

“Strange Fruit” uses irony and a minor tone to communicate the horrors of violence against African Americans during the Civil Rights Movement.

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